Ampel-Gehampel
Wenn sich zwei Bekannte an einer roten Ampel gegenüberstehen, ergibt
sich oft ein Schauspiel, dessen Betrachtung ich dem geneigten Leser für
den Fall des unbeteiligten Danebenstehens dringend ans Herz legen
möchte.
Es beginnt damit, dass sich beide per Gestik und Mimik das gegenseitige Erkannthaben signalisieren.
Gerade bei Jüngeren geschieht dies gerne durch nur leichtes, kurzes, für
den anderen auf die Entfernung gerade so erkennbares Heben des Kinns.
Das andere Extrem stellt hingegen die geradezu explodierende Lach-Grimasse mit zu einem ungefähren "Aaaah!"
geöffneten Mund dar, begleitet von Ganzkörpereinsatz in Form von Winken
bis hin zu kurzem Wippen oder Tänzeln, womit die unbändige Freude über
das unerwartete Zusammentreffen über die Straße hinweg ohne Ton
versichert wird.
Aber das ist ja nur der Anfang, der harmlose.
Nach den ersten Sekunden wird scheinbar beiden auf einmal klar, dass sie
der einheimischen Vogelwelt, der üppigen Vegetation zwischen Gehweg und
Bordstein sowie den in Sichtweite befindlichen Bauwerken in ihrem Leben
bisher viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben. Auch
vorbeifahrende Autos und deren Insassen verlangen nach Betrachtung, und
die Muster, die die Rillen im Asphalt im Zusammenspiel mit
festgetretenen Kaugummis auf dem Boden bilden, sind bei näherem Hinsehen
faszinierende Kunstwerke, geschaffen von Bruder Zufall.
Natürlich geht es einzig und allein darum, dem Gegenüber nicht ununterbrochen auf die Nase starren zu müssen, ohne etwas zu ihm sagen zu können. Gebrüllte Unterhaltungen über den Verkehr hinweg sind verpönt, und ein Dialog mit Händen und Füßen könnte den Umstehenden den peinlichen Eindruck vermitteln, man sei ein untalentierter Ausdruckstänzer oder nicht ganz dicht.
Der abschließende Höhepunkt folgt, wenn das grüne Männchen erscheint.
Meist reicht die Freude über die Begegnung nicht aus dafür, dass nun
einer von beiden auf seiner Straßenseite den anderen zum Plausch
erwartet. Also trifft man sich mitten auf der Fahrbahn. Man begrüßt sich
noch mal, jetzt verbal, inklusive einer knappen, aber in der
Zwischenzeit perfekt ausgearbeiteten Bemerkung, die allerdings oft
ungehört verhallt, weil beide durcheinander flachsen. Unübersehbar
drücken Augen und Mundwinkel aus, wie bedauerlich es doch sei, dass die
in Kürze wieder umspringende Ampel und der daraufhin anrollende Verkehr
ein gemeinsames Verweilen an diesem Ort unmöglich machen würden.
"Toll, dich zu sehen, passiert ja sonst viel zu selten!",
vermitteln die Gesichter, während die dazugehörigen Körper stur
weiterlaufen. "Dabei sollten wir uns unbedingt mal wieder in Ruhe
unterhalten, nur jetzt ist's halt gerade blöd! Wir müssen da mal was
ausmachen! Ich ruf dich an!"
Zumindest letzteres ist in der Regel gelogen.